Mein Knie

Schulmedizin wollte operieren, was ich vor Angst ablehnte. Homöopathische Medizin verschrieb mir tausende Kugerln. Die Nadeln der Akupunktur sind auch zum Einsatz gekommen. Verschiedene Massage-Arten sind angewandt worden.

Mal sind meine Schmerzen milder und mal stärker geworden. Mal waren sie plötzlich da, mal gab es sie nicht. Am Schlimmsten war es, wenn ich das Bein nicht mehr ausstrecken konnte. Oh, ich hatte vergessen: Es geht ja um mein Knie. Manche haben gemeint “es kommt von der Bewegungslosigkeit”. Manche meinten auch “es kommt vom Sitzen und Schlafen auf dem Boden, das würde häufig bei Orientalen festgestellt”. “Ihr Türken esst sehr früh Knoblauch, das behindert die Knochenentwicklung”, meinte ein Alleswisser.

Es kann vom Bergsteigen in meiner Jugend kommen, meinten die Anderen. Die harte Arbeit beim Messebau ist auch erwähnt worden, die ich etwa acht Jahre lang hier in Europa ausgeübt habe.

Als ich fast hoffnungslos annehmen wollte, mit den Schmerzen leben zu müssen, fand ich die Lösung: Wenn ich Rad fuhr, hatte ich weniger oder gar keine Schmerzen.

Die paar Minuten zwischen Arbeit und der Wohnung lohnt es sich nicht zu radeln.

Aber bei jeder Gelegenheit nutze ich das Fahrrad. Sonntags und zu Feiertagen ist es fast eine Gewohnheit geworden. Egal welche Route ich nehme, sie muss immer am Wasser vorbei führen. Während sich meine Kniee therapieren, kann ich die Umwelt beobachten. Die Bäume, das Wasser, die Menschen, die Tiere und oft alle miteinander. Am liebsten beobachte ich die Menschen. Ich finde diesen winzigen Teil der Natur einfach faszinierend.

Wenn ich nichts zu beobachten finde, denke ich nach. Über die Gesellschaft, über die Themen der Woche, Nachrichten, Politik, Ausländer, Inländer. Über meine Hoffnungen denke ich nach. Meine Fehler, meine Träume ….. Was soll es, ich bin halt ein Träumer. Immer mehr denke ich auch über Djalilabad nach, meinen Geburtsdorf, und dessen Schotterstraßen, die ich neben meinem Vater gefahren bin.

Ich fahre meistens über den Wiener Ring bis zur Urania, dann nehme ich eine kurze Strecke am Donaukanal, dann überquere ich die Schüttelstrasse, weiter über die Prater Hauptallee bis zum Lusthaus. Dort mache ich eine Ehrenrunde als wäre es ein Mausoleum. Zurück zum Donaukanal, entlang aller neuen und alten Lokale bis zur Friedensbrücke. Kurz davor oder danach mache ich eine Pause, nehme eine leere Bank für mich allein und mache mich so breit, als würde sie mir gehören. Ja, genau wie viele in der U-Bahn oder Straßenbahn. Ich trinke stilles Wasser und beiße in den hiesigen Gala-Apfel, den ich immer samstags auf dem Bauernmarkt am Yppenplatz kaufe. Manche  kennen ihn als „Brunnenmarkt“. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, den hungrigen Magen in einem milden Sonnenbad zu füllen.

Endlich kann ich meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Ich mache es mir auf meiner Bank bequemer, versteckt hinter meiner Penny UV- Sonnenbrille, und beobachte. Nein, das meine ich nicht so, es ist eine Art Studium. In Wirklichkeit studiere ich die Menschen. Ich sagte ja, dass ich sie faszinierend finde.

Viele applaudieren und bejubeln ihre Ball oder Stock bringenden Hunde.

Viele Tiere riechen aneinander während die Besitzer plaudern. Und die anderen Tiere spielen Fangen.

Manche schimpfen mit den armen eingeschüchterten Hunden oder ziehen ständig die Leine und fragen “was hab i g’sagt, was hab i g’sagt, bist du depat?”

Die milden Morgenstunden vergehen und langsam schießt die liebe Sonne mit Strahlen so scharf als wären sie richtige Feuerbällchen. Der schmale Weg füllt und füllt sich bunt gemischt. Die Menschen sind unterwegs, Frauen wie Männer, allein, paarweise oder in tierischer Begleitung.

Die Laufenden sind auch zahlreich vertreten. Bei einigen davon hast du das Gefühl, dass sie die McDonalds oder kalorienreichen Speisen der zu Ende gehenden Woche abzubauen versuchen.

Radfahrer die zum Teil so rücksichtslos fahren, als wäre es das Rennen ihres Lebens oder Skateboarder und was weiß ich welche sonst noch mobil gewordenen Menschen unterwegs sind –  geradeaus oder Slalom fahrend.

Zwei machohafte Burschen tauchen auf, die anscheinend all ihre Größe in den Oberarmen versammelt haben, demonstrieren ihre überdimensionalen Muskeln, die ihre kurzen Ärmelöffnungen fast platzen lassen.

Es kommt ein Pärchen. Beide sehr jung und zart und kleinwüchsig. Vielleicht hatten sie erst vor kurzem ihren 18ten gefeiert oder so. Aber sie strahlten in ihren Träumen. Mit einer Hand schoben sie den Kinderwagen vor sich her. Und die anderen Hände drückten einander warm. Sie haben türkisch gesprochen. Vor mir blieben sie kurz stehen, griffen in den Kinderwagen und sprachen einige Wörter mit dem murmelnden Kind und dann mit einander. Ich dachte sie hätten sich umarmen oder küssen wollen. Während sie lachten haben sie mich entdeckt. Ich nahm meine Brille ab und zoomte in die Augen des jungen Mannes und lächelte ihn an. Ich sagte ihnen “gozun aiden”, eine Art Gratulation. Nein, ich kann nicht türkisch, nur einige wenige Wörter und Sätze.

Sie ziehen glücklich und stolz weiter. Ich habe ihnen wirklich so viel Glück gewünscht, als wäre ich ein Beteiligter.

Wieder schimpft einer mit dem ungehorsamen Hund laut. Ich sehen hin, er ohrfeigt sogar den kleinen Hund und schreit „nein hab i g’sagt“.

Es ist mir zu viel geworden, ich will weg und mich in eine ruhigere Richtung bewegen.

Oh, da kommen zwei Frauen: Die muss ich auch noch studieren.

Ich schaue in ihre Richtung, ich will sie ansehen, aber auch wieder nicht. Was soll ich tun, die meisten Iraner schauen halt nicht so direkt hin. Wir tun immer so als würden wir wo anderes hinschauen. Sie kommen näher und näher. Moment mal, das sind ja überhaupt keine Frauen, das sind doch noch Kinder. Nur etwas groß aussehend, die sich wie erwachsene Frauen gekleidet haben. Meine Aufmerksamkeit nahm ab. Aber sie versuchten mit allen Mitteln aufzufallen und sich in Szene zu setzen. Allein wie sie gegangen sind. In einer Art Model-Gang, bei dem man Angst hat, dass sich die Füße ineinander verstricken.

Sie waren aber wirklich sehr barbusig. Sie schauen in meine Richtung, sie verlangen eine Bestätigung, glaube ich. Ihre kurzen Hosen unterscheiden sich kaum von einer Frauenunterhose. Oben tragen sie ein sehr knappes T-Shirt. Und ich will gar nicht sagen, woran ich dachte, als ich ihre ziemlich hohen Stöckelschuhe gesehen habe.

Es machte mich ordentlich betroffen. Ich wusste nicht mehr, was ist richtig, was ist falsch. Die einen dürfen alles, die anderen wo anders dürfen nichts. Darf ich überhaupt eine Meinung haben? Oder soll ich es einfach annehmen?

(Veröffentlicht im Asyl 4-2011)